Wie weit war die römische Medizin?
Zur Zeit der Republik (509 bis 27 vor Christus) hatte die Medizin bei den Römerinnen und Römern noch keine besonders hohe Bedeutung, obwohl sie schon in Griechenland und Ägypten längst etabliert war. Zwar beschäftigten einige reiche Familien griechische Sklaven mit medizinischen Kenntnissen, doch von einem ärztlichen Beruf konnte in der frühen römischen Gesellschaft noch nicht die Rede sein. Die Wertschätzung einer medizinischen Versorgung sollte sich erst zur Zeit des Kaisers Augustus ändern und begann im militärischen Bereich. Im Laufe des 1. und 2. Jahrhunderts nach Christus setzte sich ein medizinisches Angebot auch für die römische Zivilbevölkerung durch, was sich an Siedlungsfunden in Pompeji und Herculaneum bis hin zum Inventar römischer „Arztgräber“ im Rheinland erkennen lässt.
Die medizinische Forschung der Römerzeit hat namhafte Ärzte wie Dioskurides, Celsus und Galen hervorgebracht, deren Werke auch über die Antike hinaus nachwirkten.
Der bedeutendste römerzeitliche Arzt war Galenos von Pergamon („Galen“), der im 2. Jahrhundert nach Christus lebte. Er war Hofarzt des Kaisers Marcus Aurelius und dessen Sohn Commodus. Dieser Karriere vorausgegangen war eine mehrjährige praktische Tätigkeit als Gladiatorenarzt. Galens Theorien und sein Werk fußten auf dem eines rund 700 Jahre älteren Gelehrten: Hippokrates, der auch als „Vater der Medizin“ bezeichnet wird.
Jener hatte bereits im 5. Jahrhundert vor Christus den berühmten „Hippokratischen Eid“ formuliert, einen Ehrenkodex für Ärzte, der unter anderem die bis heute gültige ärztliche Schweigepflicht vorschreibt. Hippokrates hatte schon viele Krankheiten und ihre Symptome beschrieben. Auf dieser Basis konnten spätere Ärzte und Ärztinnen nicht nur Krankheiten erkennen (Diagnose), sondern auch ihren weiteren Verlauf vorhersagen (Prognose). Und schließlich gilt Hippokrates auch als Begründer der sogenannten „Vier-Säfte-Lehre“, einem Erklärungsmodell für körperliche Leiden und ihre Behandlung.
Der römerzeitliche Arzt Galen weitete diese Logik auch auf Therapieformen und einen gesunden Lebensstil aus. Dazu zählten gesunde Ernährung, Bewegung, Schlaf und eine reine Umgebung, die besonders durch sauberes Wasser und gute Luft gekennzeichnet sein sollte.
Galen studierte nahezu alle älteren medizinischen Schriften und optimierte sie. Erwähnenswert ist ein idealer gesundheitsfördernder Tagesablauf, der einige Jahrhunderte zuvor erstmals von Diokles von Karystos entworfen worden war und nun von Galen etwas anwendungsfreundlicher umgestaltet wurde. Da der römische Tag stets in 12 „Stunden“ zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang unterteilt war, ordnete er diesen Segmenten Aufgaben zu, die dem Prinzip eines stetigen Wechsels zwischen Ruhe und Bewegung, Sport und Körperpflege, Nahrungsaufnahme und Schlaf folgten.
Der Arztberuf war kein geregelter Ausbildungsberuf. Wer es sich leisten konnte und die Medizin eingehender studieren wollte, besuchte eine der wenigen Medizinschulen, die es zum Beispiel in Athen und Alexandria gab. Anders als im modernen Medizinstudium waren anatomische Studien an Leichen in der Römerzeit verpönt. Für die griechische und römische Antike sind nur sehr wenige Forschende bekannt, die an den Körpern verstorbener Menschen Sektionen vornahmen und das Aussehen, die Anordnung und die Funktionen der Organe genauer untersuchten. Die aus hellenistischer Zeit stammenden Schriften zu diesen Studien werden von den römischen Ärzten Celsus und Galen zitiert. Aus Mangel an menschlichen Leichen zu Studienzwecken forderte Galen von jeder Person, die Anatomie studieren wollte: „Ich möchte, dass du dich zuvor oft an Affen geübt hast, damit du, wenn du auch einmal zum Sezieren eines menschlichen Körpers kommen solltest, leicht jeden einzelnen Körperteil freilegen kannst“ (Galen, Über die Verfahrensweise beim Sezieren. Buch III, Kap. 5). Galen selbst entwickelte auch ein anatomisches Modell, welches allerdings von den modernen Erkenntnissen stark abweicht und einige Fehler enthält. Ein Grund für die Fehlinterpretation einiger Organfunktionen ist vor allem darin zu suchen, dass weder genügend Beobachtungen an Menschen noch an Affen durchgeführt wurden.
Die meisten Ärzte und Ärztinnen studierten nicht, sondern ließen sich im praktischen Alltag anlernen und übernahmen den „Familienbetrieb“. Einen besonderen gesellschaftlichen Status besaß der Beruf des Arztes nicht. Er war im handwerklichen und privatgewerblichen Bereich oder im Militär angesiedelt. Daher beklagt Galen im 2. Jahrhundert nach Christus, dass die Tätigkeiten als Arzt für viele „keiner langen Erfahrung und keiner Vertrautheit mit den Aufgaben der Heilkunst bedürfen“ und es sei „für jeden, der auf leichte Art Arzt werden will, bequem, Zugang zu finden. Deshalb machen sich schon Schuster, Zimmerleute, Färber und Schmiede über die Aufgaben der Heilkunst her“ (Galen, Die therapeutische Methode. Buch 1, Kap. 1).
Die Ärzte im römischen Militär hatten keinen besonders hohen Rang und trugen kein Kommando. Für die in Bonn stationierte erste Legion (legio prima Minervia) ist ein „miles medicus“ inschriftlich belegt (CIL XIII 7943), wobei „miles“ den einfachen Soldaten bezeichnet. Ferner ist der Begriff „medicus castrensis“ oder auch „medicus castrorum“ überliefert, was einfach so viel heißt wie „Arzt im Lager“. Trägt ein Militärarzt den Titel „medicus ordinarius" könnte er hierarchisch einem „centurio“ gleichgestellt gewesen sein, ohne jedoch wirklich eine Hundertschaft zu befehligen. Anhand von Inschriften lassen sich zudem Spezialisierungen der militärischen Ärzte erkennen, wie die des „medicus chirurgus“ (Chirurg), „medicus clinicus“ (Arzt am Krankenbett) oder des "medicus veterinarius" (Arzt für die Tiere, insbesondere die Pferde).
Dass die medizinische Versorgung der Soldaten bereits in augusteischer Zeit ihren zentralen Platz in den Legionslagern gefunden hatte, zeigt sich daran, dass damals ein Militärkrankenhaus, ein sogenanntes „Valetudinarium", schon fester Bestandteil der militärischen Infrastruktur war. Das älteste Lazarett ist für das Legionslager Haltern an der Lippe belegt, das in die augusteische Zeit datiert. Im ersten Jahrhundert nach Christus bestanden Militärkrankenhäuser in den Legionslagern Vetera 1 (bei Xanten), Novaesium (Neuss) und Bonna (Bonn). Die Architektur dieser Krankenhäuser folgte einem sehr einheitlichen Grundrissplan.
Alle Zimmer wurden durch einen umlaufenden Hauptkorridor miteinander verbunden. Von diesem zweigten kleine Nebenkorridore ab, welche zu den Krankenkammern führten. Sie waren meist paarweise angeordnet und fassten jeweils bis zu vier Patienten. Zwischen einem Kammerpaar war die Trennwand meist durchgezogen, ohne Durchgang. Dieses architektonische Detail deutet darauf hin, dass Personen mit ansteckenden Krankheiten isoliert werden konnten. Jedes Zimmer hatte einen eigenen Zugang über einen Nebenkorridor. Jedes Zimmer verfügte außerdem über ein eigenes Fenster, in das frische Luft und Tageslicht eindringen konnten. Ein innerer Ring aus Zimmern gruppierte sich auch um den zentralen Innenhof, von dem aus ebenfalls frische Luft in das Gebäude einströmte.
Schon bei Hippokrates ist zu lesen, welch hohe Bedeutung saubere Luft für die Gesundheit und die Genesung hat. Eine Steigerung erfuhr diese Lehre in der Schule der "Pneumatiker", die im 1. Jahrhundert vor Christus entstand und bis in das 2. Jahrhundert nach Christus prägend war. Das "pneuma" (die Luft) war demnach für den Gesamtzustand des menschlichen Körpers hauptverantwortlich.
Auch sauberes Wasser war wichtig. Auf dem Innenhof des Valetudiariums in Neuss wurde ein Ring aus Brunnen mit Frischwasser gespeist. Für das Militärkrankenhaus in Xanten (Vetera 1) konnten neben Brunnen auch Badeanlagen erkannt werden.
Die ersten Spuren der römischen Medizin finden wir hierzulande in den Gebäuderesten der Militärkrankenhäuser. Hier wurden vereinzelt auch chirurgische Instrumente geborgen. Im Militärkrankenhaus des Legionslagers Novaesium/Neuss aus dem späten 1. Jahrhundert nach Christus sind auch Heilkräuter archäobotanisch belegt, die in einem als „Apotheke“ gedeuteten Raum gelagert waren: Tausendgüldenkraut, Johanniskraut, Eisenkraut, Arzneithymian, Dill, Koriander und Bockshornkleesaat.
Auch im zivilen Bereich gab es Ärzte und Ärztinnen. Es mag erstaunen, dass die Schriftquellen neben dem männlichen Medicus die weibliche Medica nennen. Häufig fiel den Ärztinnen die Frauenmedizin zu. Aber es gab bereits im 2. Jahrhundert nach Christus schon mehrere Spezialisierungen und Fachrichtungen, die sowohl von Männern als auch von Frauen besetzt wurden. In den Gräbern des 2. und 3. Jahrhunderts nach Christus finden sich beispielsweise mehrere Belege für Fertigkeiten in der Augenmedizin: Starstichnadeln, Augenarztstempel oder Augensalbenreste. Andere Gräber beinhalten Arzneikästchen oder besondere chirurgische Instrumente im Set. Eines der berühmtesten Arztgräber ist das 1925 in Bingen am Rhein geborgene Arztgrab mit über 66 medizinischen Instrumenten.
Mittlerweile sind auf dem Gebiet des gesamten ehemaligen Imperium Romanum über 100 Arztgräber bekannt, von denen die meisten in das 2. und 3. Jahrhundert nach Christus datieren. In dieser Zeit ließen sich die Ärzte und Ärztinnen häufig mit den Utensilien aus ihrem Berufsalltag beisetzen. Die Geräte waren allein aufgrund des Materials (Bronze) recht kostbar und wurden wahrscheinlich in den meisten Fällen von Generation zu Generation weitergegeben. Bei der Verwendung als Grabbeigabe ist ein ritueller Kontext oder eine symbolische Bedeutung nicht auszuschließen.
Die größte Dichte an römischen Arztgräbern weist nach derzeitigem Forschungsstand die Stadt Köln auf. Hier können mittlerweile über 16 Gräber als Arztgräber angesprochen werden. Grundsätzlich wurden die Toten immer außerhalb der Stadtmauern einer römischen Stadt beigesetzt. Die römischen Arztgräber von Köln befinden sich daher an den römischen Fernstraßen wie Aachener Straße, Luxemburger Straße und Bonner Straße auf modernem Stadtgebiet. Berechnungen zufolge war die medizinische Versorgung der Römerstadt Köln in etwa so gut wie die in der mit 20.000 Einwohnern ebenso großen Stadt Pompeji, wo an 25 Fundpunkten insgesamt über 240 chirurgische Instrumente in sogenannten „Arzthäusern“ geborgen werden konnten.
Die meisten der in Pompeji geborgenen Instrumente waren noch bis zum Vesuvausbruch im Jahr 79 nach Christus in praktischem Gebrauch. Die meisten römischen „Arztgräber“ mit chirurgischen Instrumenten datieren in das 2. und 3. Jahrhundert nach Christus. Danach verliert sich diese besondere Beigabensitte. Siedlungsfunde chirurgischer Instrumente sind eher selten, denn so manches Objekt aus wertvoller Bronze wurde in späteren Krisenzeiten eingeschmolzen oder eingetauscht.
Für viele Menschen war die Medizin allein von den Göttern bestimmt. Der wichtigste Heilgott war Asklepios (lat. Aesculapius, dt. Äskulap), der an seinem Attribut, dem Schlangenstab, zu erkennen ist. Daneben spielte auch seine Tochter Hygieia (lat. Salus) eine bedeutende Rolle. Äskulap-Heiligtümer verbreiteten sich seit dem 5. Jahrhundert vor Christus im gesamten Mittelmeerraum und zogen durchweg bis zum 5. Jahrhundert nach Christus zahlreiche Kranke an. Diese glaubten, dass die Götter ihnen durch das Einflüstern von Therapiemaßnahmen während des Tempelschlafs helfen konnten.
Neben dem Glauben an die höheren Mächte half den Menschen auch das breite Therapieangebot in den Asklepios-Heiligtümern, die mit Bädern, Sportanlagen, Theatern und Bibliotheken oft die Infrastruktur eines Kurortes aufwiesen und in denen einige Ärzte anwesend waren. Der Kult verbreitete sich mit den Römern in allen Teilen des Imperium Romanum und gelangte somit auch in das heutige Nordrhein-Westfalen. In Bad Godesberg fand sich ein Weihestein für Asklepios und Hygieia.
Der Ort ist bis heute für sein gutes Quellwasser bekannt. In Aachen, dem antiken „Aquae Granni“, wurde Apollo Grannus verehrt, bei dem es sich um eine Verschmelzung aus dem keltischen Heilgott Grannus und Apollo medicus, dem Vater des Asklepios, handelte. Auch in Aachen spielte, wie der Teil der Namenswurzel „Aquae“ nahelegt, das gute Wasser eine besondere Rolle.
Inwieweit ein im Jahr 2020 aus einem römischen Brunnen im Bonner Vicus geborgener thronender Apoll sowie Fragmente zweier weiterer Statuen im Zusammenhang mit Heilgottheiten interpretiert werden können, muss vorläufig noch offen bleiben. Grundsätzlich darf jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kult um Heilgötter während der Römerzeit auch in Nordrhein-Westfalen verbreitet war.
Grundsätzlich hatte die Sauberkeit des Wassers einen hohen Stellenwert. Zu den öffentlichen Maßnahmen zählte die Versorgung der Bevölkerung mit frischem Quellwasser. Dieses wurde in Köln über eine fast 100 Kilometer lange Wasserleitung (Aquädukt) von der Eifel in die Stadt geführt.
In der Colonia Ulpia Traiana (Xanten) sind die Wasserleitungen ebenfalls von den Quellen in der westlichen Hügellandschaft in die Stadt geführt worden. Der Bedarf war allein aufgrund der Thermenanlagen immens.
Die Thermen zählten zudem zu den wichtigsten Hygieneeinrichtungen, die auch für die Allgemeinheit und zu erschwinglichen Preisen zugänglich waren. Aber auch öffentliche Trinkwasserbrunnen mussten gespeist werden. Die Stadt Rom hatte allein einen Bedarf von 600 Millionen Litern Trinkwasser täglich. Beim Abwasser musste in den dicht besiedelten Städten ebenso auf Hygiene geachtet werden. Es wurde unterirdisch über ein Kanalisationsnetz in die größeren Fließgewässer abgeleitet. In Rom, wo es über 150 öffentliche Latrinen (Gemeinschaftstoiletten) gab, mündete die Cloaca maxima in den Tiber. In Köln und Xanten dürften die Abwässer in den Rhein abgeleitet worden sein. Die genauen Mündungsstellen sind aufgrund von Verlagerungen und Überprägungen des antiken Rheinbettes nicht mehr erkennbar.
Schon Hippokrates betonte, dass die Macht über Krankheit und Gesundheit nicht allein bei den Göttern, sondern in der Eigenverantwortung der Menschen liege. Sein Verständnis von Krankheiten und das seiner Nachfolger wie Galen basierte auf der sogenannten „Vier-Säfte-Lehre“. Die Idee war, dass die vier wichtigsten Körpersäfte − das Blut, der Schleim, die dunkle Galle und die helle Galle − im Gleichgewicht sein mussten. Gab es einen Überschuss oder umgekehrt einen Mangel eines bestimmten Körpersaftes, entstand ein Ungleichgewicht und somit eine Krankheit − so die Logik der antiken Medizin.
Um einem solchen Ungleichgewicht entgegenzuwirken, wurden bestimmte Diäten oder besondere Kräuter empfohlen. Oder ein überschüssiger Körpersaft wurde reduziert. Hier waren Aderlass und Schröpfen sowie die Verabreichung verdauungsfördernder oder harntreibender Substanzen die Mittel der Wahl.
Die Naturapotheke bot zahlreiche Pflanzen, die zum Teil mit Wein, Honig, Essig oder Meerwasser vermischt oder pur angewendet wurden. Einfaches Meerwasser wurde ebenfalls für verschiedene Zwecke eingesetzt, unter anderem getrunken als Abführmittel, per Klistier zur Darmspülung eingeleitet oder als Pflaster für die Wundheilung aufgelegt (Dioskurides, De materia medica).
Nur bei wenigen medizinischen Schriften finden sich auch genauere Angaben zu Gewichtsanteilen der einzelner Rezeptbestandteile sowie zur Dosierung. Teilweise befinden sich Dosierungshinweise in dem Werk „Der gute Arzt“ von Scribonius Largus aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Allerdings fehlen sie auch oft bei sehr gefährlichen Arzneipflanzen wie dem Bilsenkraut, das Scribonius Largus beispielsweise gegen Zahnschmerzen empfiehlt.
Die Vier-Säfte-Lehre wird oft mit der Homöopathie verwechselt, folgt jedoch einer ganz anderen Logik. Während in der neuzeitlichen Homöopathie „Gleiches mit Gleichem“ geheilt werden soll, galt in der antiken Vier-Säfte-Lehre: „Das Gegenteil heilt das Gegenteil“. Dazu wurden die Krankheiten und Therapiemaßnahmen den vier Qualitäten „warm“, „trocken“, „kalt“ und „feucht“ zugeordnet. Eine heiße und trockene Krankheit wie zum Beispiel hohes Fieber wurde mit kühlenden und feuchten Mitteln, Kräutern und Maßnahmen behandelt.
Die hohe Bevölkerungsdichte in den Städten, der großräumige Handel und Reiseverkehr sowie die Mobilität des römischen Militärs trugen zur Ausbreitung zahlreicher Krankheiten bei. Bei der verheerenden „Antoninischen Pest“, die zur Zeit des Kaisers Marcus Aurelius vom Osten des Römischen Reiches bis an die germanischen Grenzen wütete, handelte es sich nach Meinung der meisten Forschenden nicht um die eigentliche Pest, sondern um die Pocken. Das auslösende Variola-Virus gilt als einer der schlimmsten Erreger in der Medizingeschichte und wurde erst im Jahre 1982 infolge einer weltweiten Impfaktion besiegt. Impfungen waren bei den Römern noch gänzlich unbekannt.
Eine zweite große Pandemie überrollte in der Spätantike das von Kaiser Justinian beherrschte Oströmische Reich und schließlich auch weite Teile des Weströmischen Reiches. Die sogenannte Justinianische Pest basierte auf einer frühen Variante des Bakteriums Yersinia Pestis, das rund 800 Jahrhunderte später im Mittelalter den großen „Schwarzen Tod“, die größte Pandemie der Menschheitsgeschichte auslösen sollte. Über 150 Jahre zog sich die Justinianische Pest hin, kostete mehreren Millionen Menschen das Leben, ging einher mit Völkerwanderungen, Kleinkriegen und Chaos und besiegelte das Ende der römischen Herrschaft in Europa. Ob die Justinianische Pest auch Gebiete Nordrhein-Westfalens erreichte, ist noch unbekannt. Bis ins bayrische Aschheim hat es der Erreger paläopathologischen Untersuchungen zufolge geschafft.
Die Archäologie arbeitet heutzutage eng mit der Paläopathologie zusammen, wenn es um die Rekonstruktion von Krankheitsbildern geht. Mittels medizinisch-naturwissenschaftlicher Verfahren werden, ähnlich wie bei Kriminalfällen, Diagnosen erstellt. Untersuchungen an Skeletten und Leichenbränden, die aus römerzeitlichen Gräbern geborgen wurden, zeigen weit verbreitete Leiden sowie Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen deutlich an. Nicht-infektiöse Krankheiten wie Arthritis, Karies und Knochenbrüche lassen sich häufig schon mit bloßem Auge erkennen. Im Gräberfeld von Krefeld-Gellep wiesen 5,4 % der untersuchten Bevölkerung krankhafte Knochenveränderungen auf, darunter Arthrose und Arthritis, Tumore, Ausrenkungen sowie Verknöcherungen, die durch einseitige Belastungen entstehen können. Die Lebenserwartung der Provinzbevölkerung lag nach Ausweis medizinischer Untersuchungen bei etwa 40 Jahren. Nur ein kleiner Bruchteil erreichte noch ein Lebensalter von 60 Jahren.
Darüber hinaus stehen heutzutage viele naturwissenschaftliche Analyseverfahren zur Verfügung, mit denen auch Krankheiten längst verstorbener Individuen nachgewiesen werden können. Da Bakterien und zahlreiche Viren eigene Erbinformationen (DNA) in sich tragen, ist es möglich, die in Knochen und Zähnen angereicherten Informationen mit den „Fingerabdrücken“ dieser Erreger zu vergleichen und die Infektionsgeschichte eines Menschen abzulesen. Auch zum allgemeinen gesellschaftlichen Gesundheitszustand lassen sich Aussagen treffen. Neben statistischen Auswertungen mehrerer Personendaten aus einem gemeinsamen zeitlichen und räumlichen Kontext sind hier besonders naturwissenschaftliche Analysen von antiken Wasser- und Abwassersystemen aufschlussreich. So lassen sich aus dem Inhalt römischer Latrinen, den öffentlichen Gemeinschaftstoiletten, Erkenntnisse über allgemeine Mangelerscheinungen oder Parasiten gewinnen.
Die Chirurgia ist im Ursprung ein griechischer Begriff und heißt so viel wie „Handarbeit“. Während einige Krankheiten mithilfe von Diäten oder Kräutern geheilt werden können, ist bei anderen Krankheiten die „Hand“ des Arztes oder der Ärztin erforderlich. Für sämtliche Eingriffe wie Wundbehandlung, Abtrennungen von Gliedmaßen und Schädelöffnungen gab es spezifische Instrumente. Diese wurden jedoch nicht erst von den Römern erfunden, sondern fanden schon im alten Ägypten und im frühen Griechenland ihren Einsatz. Durch kulturelle Begegnungen und Handelsbeziehungen zwischen Griechen und Kelten, waren medizinische Instrumente auch schon in der vorrömischen Eisenzeit nördlich der Alpen bekannt. Ein Unterschied lag darin, dass die keltischen Instrumente in der Regel aus Eisen gefertigt waren, wohingegen die griechischen und römischen Bestecke aus Bronze bestanden.
Über chirurgische Fertigkeiten und Spezialisierungen in den einheimisch-keltischen Gesellschaften sind wir kaum unterrichtet. Ob diese Aufgaben den Druiden zufielen, die nach Aussage von Plinius auch für die Zubereitung von Heilgetränken wie dem Mistelsud zuständig waren, lässt sich aus den Schriftquellen nicht eindeutig erkennen. Archäologische Funde von Skalpellen, Brenneisen und Schädelöffnern zeigen jedoch, dass sich einige Personen in den keltischen Siedlungen mit chirurgischen Eingriffen wohl bereits im 2. Jahrhundert vor Christus auskannten. In römischen Fundzusammenhängen sind dann erst ab dem 1. Jahrhundert nach Christus chirurgische Instrumente belegt. Das Spektrum ist bei den Römern breiter und vielseitiger. Es umfasst Skalpelle, Salbenspatel, Scheren, Wundhaken sowie beidseitig nutzbare Spatelsonden und Löffelsonden. Für chirurgische Eingriffe wurden die Patienten und Patientinnen zunächst beruhigt: Durch die Verabreichung von Opium (Schlafmohn) oder Bilsenkraut konnte Schläfrigkeit herbeigeführt und eine höhere Schmerztoleranz erzielt werden. Dies war besonders bei schweren Eingriffen wie Amputationen nötig.