Wer waren eigentlich die Germanen?
Als Germanen bezeichneten Römer die vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die zwischen den großen Flüssen Rhein, Weichsel und Donau sowie an den Küsten der Nordsee und Ostsee siedelten. Dieser sehr große Raum entspricht in etwa Mitteleuropa und dem südlichen Teil Nordeuropas. Die Römer nannten dieses Gebiet „Germanien“. Zur Abgrenzung von den römischen Provinzen Niedergermanien (lat. Germania inferior) und Obergermanien (lat. Germania superior) wurde das außerhalb gelegene, nicht von Rom verwaltete Gebiet auch als Germania magna bezeichnet, was so viel wie „großes Germanien“ bedeutet.
Als zusammenhängendes Volk verstanden sich die außerhalb des Römischen Reiches lebenden Menschen nicht. Auch bezeichneten sie sich selbst nicht als Germanen. Im Gegenteil: Die Bevölkerung bestand aus zahlreichen vereinzelten Stämmen. Nur wenige kennen wir namentlich aus Schriftquellen. Bekannte Stämme auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens waren zum Beispiel die Cherusker und die Brukterer.
Als Sammelnamen für alle östlich des Rheins lebenden Menschen prägte Gaius Iulius Caesar (100–44 vor Christus) den Germanenbegriff. Er unterschied aus militärstrategischen Gründen die Kelten, die hauptsächlich westlich des Rheins lebten, von den Germanen, die in den Weiten östlich des Flusses siedelten. Da es auch Ausnahmen gab, trennte er begrifflich die Germanen „diesseits“ und jenseits des Rheins.
Der Raum der Germanen blieb niemals statisch. Die Bevölkerungsgruppen und „Stammesgebiete“ wechselten im Laufe der Zeit. Dies lässt sich vor allem am Wandel der Stammesbezeichnungen in den Schriftquellen des ersten bis dritten Jahrhunderts erkennen. Ab dem dritten Jahrhundert wird auch die Bezeichnung „Germanen“ immer seltener verwendet, bis sie im fünften Jahrhundert ganz aus den Schriftquellen verschwindet. Die Bevölkerungen in diesen Siedlungsräumen nannten sich in der Spätantike und im Frühmittelalter „Franken“ (Niederrhein), „Alamannen“ (Mittel- und Oberrhein), „Goten“ (Osteuropa) und „Sachsen“ (Norddeutschland).
Gaius Iulius Caesar rechtfertigte mit seinem „Bericht über den gallischen Krieg“ seine Eroberungszüge in den Jahren 58−50 vor Christus. Während seiner zwei kurzen Rheinüberschreitungen in dieser Zeit konnte er keine genauen Einblicke in die Lebensweise der dortigen Menschen gewinnen. Dennoch gab er sich als Kenner aus. Er verfasste einen ethnographischen Exkurs, in welchem er die rechtsrheinischen Germanen als besonders urtümliche Menschen darstellte, denen es an Bildung, angemessener Kleidung, Architektur, Essenskultur und politischer Organisation fehle.
Publius Cornelius Tacitus (58−120 nach Christus) war selbst niemals in Germanien. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, in seinem Werk „Germania“ ein detailreiches Bild der Germanen zu konstruieren. Dieses Bild fällt auf dem ersten Blick überraschend positiv aus, denn er lobt zum Beispiel die Treue der Ehepartner, die Kindererziehung und die Gastfreundschaft der Germanen. Was sich wie eine ethnographische Studie liest, ist jedoch reine Erfindung und diente einem besonderen Zweck. Mit der Darstellung von Tugenden, die man angeblich bei den „edlen wilden“ Germanen vorfände, sollte den Römern, deren Sittenverfall Tacitus beklagte, ein moralischer Spiegel vorgehalten werden.
Viele der von römischen Autoren beschriebenen positiven und negativen Eigenschaften der Germanen sind sehr einfache Stereotype. Sie begegnen uns dennoch zum Teil bis heute in Schulbüchern und populärwissenschaftlichen Medien.
Da die Bevölkerungsgruppen östlich des Rheins keine mit den Römern vergleichbare Schriftkultur hatten, kennen wir aus Schriftquellen nur die römische Fremdsicht. Zwar entwickelten sich aus dem lateinischen Alphabet ab dem späten zweiten Jahrhundert germanische Schriftzeichen, die sogenannten Runen. Doch in Runenschrift wurden zunächst nur kurze Inschriften verfasst. Längere Werke in Runenschrift gab es erst im Mittelalter.
Selbstzeugnisse der Menschen Germaniens sind uns daher vor allem durch archäologische Forschungen bekannt. Durch Grabungen werden Strukturen von Siedlungen sichtbar. Zudem werden kleine Friedhöfe oder einzelne Gräber entdeckt. Die Funde aus Siedlungen und Gräbern zeigen, was die Menschen selbst herstellten und was sie durch Handel erwarben. Darüber hinaus lässt sich über die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften auch vieles über die Ernährungsgewohnheiten, Lebenserwartungen und Herkunft der Menschen ermitteln. Oft widersprechen die Ergebnisse dieser Forschungen den einseitigen Darstellungen in römischen Schriftquellen.
Die Bevölkerung östlich des Rheins bestand aus sehr vielen verschiedenen Gruppierungen, deren Lebensweisen einander ähnelten. Aber die Archäologie deckt auch viele Unterschiede auf, zum Beispiel beim Hausbau, bei der Beerdigung von Toten und bei den Keramikformen. Anhand der archäologischen Hinterlassenschaften ist es jedoch nicht möglich, die in Schriftquellen genannten Stammesgebiete zu bestimmen oder zu trennen.
Die Menschen bewohnten einzelne Bauernhöfe, die in Sichtweite zueinander lagen. Heute würden wir diese Siedlungsform Weiler oder Bauernschaften nennen. Große zusammenhängende Dörfer sind nur an der Nordsee und in Skandinavien entstanden. Städte gab es nicht. Die Siedlungen lagen nicht inmitten von Wäldern, wie die Römer behaupteten, sondern in einer aufgelichteten Landschaft. Die Häuser wurden aus Holz und Lehm gebaut. Ein Bauernhof bestand aus einem Haupthaus und mehreren Nebengebäuden.
Der Alltag war durch Ackerbau und Viehzucht geprägt. Die Hofgemeinschaften betrieben zudem Handwerk wie Keramik- und Textilproduktion sowie Holz- und Metallverarbeitung. Fast alles zum Leben Benötigte stellten die Hofgemeinschaften selbst her. Sie waren Selbstversorger. Fehlende Produkte konnten durch Tauschhandel besorgt werden. Eine eigene Münzwährung gab es nicht.
Die Toten wurden mit Beigaben wie Keramikgefäßen oder Schmuck auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Anschließend wurde die Asche − entweder in einer Urne oder ohne festes Behältnis − in einer Grube beigesetzt.
Das Verbrennen der Toten war über Jahrhunderte allgemein üblich in der Germania magna. Körperbestattungen sind nur in einzelnen Regionen und in begrenzten Zeitphasen bekannt. In Westfalen kommen Körpergräber vereinzelt erst ab dem fünften Jahrhundert vor. Dies ist ein klarer Unterschied zum Römischen Reich, wo sich die Körperbestattung schon seit dem dritten Jahrhundert durchgesetzt hatte.
Innerhalb der germanischen Stammesgesellschaften gab es eine einfache Rangordnung. Archäologisch lassen sich führende Stammesmitglieder vor allem durch wertvollere Grabbeigaben erkennen.
Archäologen fanden römische Gegenstände in vielen Siedlungen und Gräbern der Germania magna. Begehrt waren vor allem rot-glänzende Tonschüsseln mit Reliefbildern, die sogenannte Terra Sigillata. Auch andere römische Tongefäße wie Kochgeschirr, Trinkbecher oder Krüge waren in Germanien begehrt. Einer hohen Nachfrage erfreuten sich auch Objekte aus Metall, vor allem römische Gefäße aus Bronze oder Messing sowie Schmuck. Da die rechtsrheinische Bevölkerung lediglich Eisen, aber kein Kupfer oder Zinn abbaute, wurden römische Metallwaren aus Kupferlegierungen auch wiederverwertet, um daraus neue Gegenstände herzustellen. Römische Münzen wurden vor allem wegen ihres Metallwertes eingeschmolzen, umgeschmiedet oder verwahrt. Als Währung wurden sie im rechtsrheinischen Raum nicht verwendet.
Im rechtsrheinischen Germanien findet sich nur eine relativ begrenzte Auswahl römischer Waren im Vergleich zum umfangreichen Angebot der römischen Provinzen. Dies zeigt, dass die germanischen Bevölkerungsgruppen nur an solchen Objekten interessiert waren, die ihren eigenen Bedürfnissen und einem guten Tauschwert im Inneren Germaniens entsprachen. Ihre Lebensgewohnheiten änderten sich durch den Kontakt mit der römischen Seite oder durch die Verwendung importierter Waren nicht grundlegend.
Als Gegenwert zur importierten römischen Ware gelangten von rechtsrheinischer Seite vermutlich vor allem Naturprodukte wie Pelze, Gänsefedern, Schinken und Honig in die römischen Provinzen. Solche Tauschgüter sind aber aufgrund ihrer organischen Beschaffenheit archäologisch schwer nachweisbar. Schriftquellen zufolge wurden auch Menschen als Sklaven und Sklavinnen gehandelt.
Kaiser Augustus rühmte sich in einer Inschrift, er habe ganz Germanien bis zur Elbe unterworfen. Vollständig militärisch besetzt war das große Gebiet zwischen Rhein und Elbe aber nicht, auch wenn es während der Herrschaft des Augustus römische Militärlager an der Lippe und in der Wetterau gegeben hatte. Wahrscheinlich sollte später aus dem Raum eine römische Provinz werden. Doch die sogenannte Varusschlacht im Jahr 9 nach Christus versetzte den Römern einen folgenschweren Schlag. Bei ihrem Marsch nach Nordosten wurden drei römische Legionen, also rund 15.000 Soldaten, mitsamt Gefolge in einen Hinterhalt gelockt und beinahe vollständig vernichtet. Nach einigen Vergeltungskriegen beschloss Kaiser Tiberius im Jahr 16 nach Christus, alle römischen Truppen an den Rhein zurückzuziehen. Nur kleine rechtsrheinisch gelegene Gebiete in Hessen und Baden-Württemberg wurden später Teil der römischen Provinz Obergermanien. Dennoch versuchten die Römer weiterhin Einfluss auf die Regionen östlich des Rheins zu nehmen. Auch römische Feldzüge bis weit nach Germanien hinein wurden unternommen. Hiervon zeugt zum Beispiel ein am Harzhorn (Niedersachsen) entdecktes Schlachtfeld aus dem dritten Jahrhundert.
Zwischen germanischen Stämmen und dem römischen Reich gab es immer wieder Konflikte. Zu traumatischen kriegerischen Ereignissen für die Römer kam es vor allem in der Frühzeit des Aufeinandertreffens. Zunächst fielen in den Jahren 113 und 105 vor Christus die Kimbern und Teutonen in das Römische Reich bis nach Italien ein. Es folgte die katastrophale Niederlage der Legionen unter Varus im Jahr 9 nach Christus. Auch später kam es immer wieder zu Kämpfen. Im Jahr 69 nach Christus erhoben sich die Bataver, ein germanisches Hilfsheer der römischen Legionen, gegen die römische Obrigkeit. Auch rechtsrheinische germanische Stämme traten in diesen Krieg ein. Zwischen 166 und 182 nach Christus kam es im Donauraum zu großen Kriegen zwischen den Römern und den Markomannen. Ab dem dritten Jahrhundert unternahmen auch fränkische, alamannische und sächsische Kriegergruppen immer wieder Beutezüge bis weit in römisches Land hinein. Solche germanischen Übergriffe wurden in den römischen Provinzen als große Bedrohung wahrgenommen. Allerdings wurde in den Berichten die Gefahr durch germanische Stämme oft bewusst überbetont, damit die Siege der Kaiser und Feldherren noch bedeutsamer erschienen. An den Grenzen des Römischen Reiches wurden zum Schutz der Bevölkerung viele Soldaten stationiert.
Aber erst ab Ende des dritten Jahrhunderts wurden römische Militärstandorte zu richtigen Festungen ausgebaut, nachdem rechtsrheinische Kriegerverbände mehrere Angriffe auf das linksrheinische Gebiet unternommen hatten. Obwohl es immer wieder zu kurzzeitigen Konflikten mit germanischen Kriegergruppen kam, lebten die Menschen beiderseits der Grenzen über weite Zeitstrecken friedlich nebeneinander, teilweise auch miteinander und tauschten sich aus. Es gab auch viele Germanen, die als Soldaten im römischen Heer mithalfen, die Grenzen zu schützen.
Es ist problematisch, Germanen als die Vorfahren der Deutschen zu bezeichnen. Neben von den Römern als Germanen bezeichneten Stämmen lebten im Laufe der Geschichte sehr viele Menschen unterschiedlicher Herkunft auf dem Gebiet, das wir heute Deutschland nennen. So bestanden zum Beispiel im Süden lange Zeit keltische Stämme. In römischer Zeit siedelten sich Menschen aus vielen Regionen des Römischen Reiches in Teilen des Rheinlands und Süddeutschlands an. Ab dem Frühmittelalter besiedelten slawische Stämme weite Teile Ostdeutschlands. Daher prägten Menschen unterschiedlicher Herkunft einen Raum, der ständigen Wandlungen unterworfen war. „Germanen“ sind somit nicht die unmittelbaren Vorfahren der „Deutschen“.
Die Idee einer Verbindung zwischen „germanisch“ und „deutsch“ ist relativ jung. Erst seit dem 18. Jahrhundert wurden die Germanen als Vorfahren der Deutschen stilisiert, um eine vermeintliche gemeinsame deutsche Vorgeschichte zu konstruieren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts flossen diese erst in der Neuzeit erschaffenen Germanenvorstellungen in die Ideologie der Nationalsozialisten ein. Leider halten sich viele Mythen der Neuzeit bis heute.